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Mittwoch, 29. Juni 2011

Ihr seid das Volk, das nie auf seine Dichter hört!

Am 30.Juni 1945 erhält Erich Kästner in Mayrhofen/Tirol Besuch von einem früheren Bekannten: Peter D. Mendelssohn, Ullstein-Journalist und Schriftsteller. Erich Kästner ("Ich bin der Dichter, der euch anfleht und beschwört, Ihr seid das Volk, das nie auf seine Dichter hört!") soll an der Reeducation der Deutschen mitwirken.

Neue Zeitung. Aus seinem Tagebuch "Notabene 45" erfahren wir - unter dem Datum 18. Juni 1945 - auch vom Besuch zweier Deutscher in amerikanischer Uniform. Sie befragten ihn über sein Leben und Tun während der Nazi-Zeit und verabschiedeten sich wieder. Zwölf Tage darauf, also an jenem 30. Juni 1945, trug man ihm die Mitarbeit an einer Zeitung an. Er sagte zu. Und wurde zum Leiter des Feuilletons des renommiertesten Blattes im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit, der "Neuen Zeitung".
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Die von den US-Alliierten kontrollierte "Neue Zeitung" war ein intellektuelles Forum für einen demokratischen Neubeginn in der von den Nazis verwüsteten Presselandschaft. Sie war ein typisches Produkt der amerikanischen Auffassung einer Reeducation, einer Umerziehung der Deutschen zu demokratisch denkenden und fühlenden Menschen. Die Nachrichten waren weitgehend frei von Wertungen, die Kommentare indessen klug abwägende und nie aufdringlich formulierte Meinungen. Die Redaktion bürgte für Seriosität und Sensibilität gegenüber den Lesern; sie bestand aus Amerikanern, naturalisierten Emigranten und - wie Erich Kästner - deutschen Schriftstellern und stand unter Leitung von Hans Habe. Die Außenpolitik verantwortete Stefan Heym, die Innenpolitik Robert Lembke, die Wissenschaftsredaktion leitete Hildegard Brücher, später eine prominente Politikerin der Bundesrepublik. Die "Neue Zeitung" erschien vom 18. Oktober 1945 bis zum 30. Januar 1955; als Produkt der amerikanischen Besatzungsmacht und schließlich doch auch in den Dienst des Kalten Kriegs genötigt, musste sie letztlich den in deutschen Verlagen erschienenen Qualitätsblättern weichen.
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Innere Emigration. Erich Kästner war gerade 34 Jahre alt geworden und auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Schaffens, da wurde sein Erfolg durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten gebremst. Seine Kritik am Krieg und seine Klage über die Not der Armen auf der einen Seite und seine Entlarvung der Ausschweifungen der Wohlhabenden auf der anderen Seite erregten den Ärger der neuen Herrscher. Und so gehörten die Bücher Erich Kästners zu denen, die am 10. Mai 1933 in den Scheiterhaufen geworfen wurden mit Schlachtrufen wie "Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner". Die Gedichtbände "Herz auf Taille" (1928), "Ein Mann gibt Auskunft" (1930), "Gesang zwischen den Stühlen" (1932) und sein satirischer Roman "Fabian" (1931) landen auf dem Scheiterhaufen.
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Erich Kästner mischte sich an jenem 10. Mai 1933 in Berlin unter das "Publikum": "Und im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen. Ich war der einzige der Vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen. Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. ... Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme: "Dort steht ja Kästner!" Eine junge Kabarettistin, die sich mit einem Kollegen durch die Menge zwängte hatte mich stehen sehen und ihrer Verblüffung übertrieben laut Ausdruck verliehen." (In: Erich Kästner: Bei Durchsicht meiner Bücher)
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Dekadenz und moralischen Verfall sahen die Nationalsozialisten in einigen Gedichten, aber vor allem in Kästners Roman "Fabian". Erich Kästner selbst schreibt in einem – erst nach dem 2. Weltkrieg veröffentlichten - Nachwort des Buches darüber: "Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er lässt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andere Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterlässt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel" (In: Fabian, S. 239). Solche Literatur konnten die braunen Machthaber aus ihrer Sicht nicht tolerieren, daher wurde sie kurzerhand verboten und verbrannt. Und da Kästner darüber hinaus noch kritische Texte gegen Krieg, Diktatur, Engstirnigkeit, Intoleranz, Unmenschlichkeit geschrieben hatte, blieb er während des Dritten Reichs ständig unter Beobachtung der Nationalsozialisten.
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Kästners Entscheidung, nicht zu emigrieren, hängt mit der überaus engen Mutterbindung zusammen. Infolge des zunächst jedoch nur auf deutsches Gebiet beschränkten Publikationsverbotes konnte er weiterhin im Ausland, vor allem in der Schweiz, veröffentlichen. Zwei Romanfragmente ("Der Doppelgänger" und "Der Zauberlehrling") blieben bis zu ihrem Erstabdruck in den "Gesammelten Schriften" unter Verschluss. Unter Pseudonym schreibt Kästner das Drehbuch für den Ufa-Jubiläumsfilm "Münchhausen". Diese Arbeit am "Münchhausen"-Film sicherte ihm zwar ein gewisses finanzielles Auskommen, nachdem seit Kriegsbeginn jede Honorarzahlung aus dem Ausland unterblieben war, gleichwohl entzog ihm im Januar 1943 die Reichskulturkammer die erteilte "Sondergenehmigung", was nun ein umfassendes Verbot, überhaupt schriftstellerisch tätig zu sein, bedeutete. Während des Dritten Reiches erschienen im Züricher Atrium-Verlag eine Neuzusammenstellung seiner mehr unpolitischen Gedichte ("Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke", 1936), einige Kinderbücher und die drei Unterhaltungsromane: "Drei Männer im Schnee" (1934), "Die verschwundene Miniatur" (1935) und "Georg und die Zwischenfälle" (1938, später unter dem Titel "Der kleine Grenzverkehr"). In diesen Texten vermeidet Kästner jede Satire und Sozialkritik, sondern entwirft eine weitgehend entpolitisierte Wirklichkeit.
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In einer Ansprache auf der Hamburger PEN-Tagung am 10. Mai 1958 sagte Kästner über die Widerstandsmöglichkeit vor und während einer Diktatur: "Im modernen undemokratischen Staat wird der Held zum Anachronismus. Der Held ohne Mikrophone und ohne Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst (... ). Er wird zum Märtyrer." Die Ereignisse nach 1933 hätten spätestens 1928 "bekämpft" werden müssen, denn: "(...) drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben."
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Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!
Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn
in den Büros, als wären es Kasernen.

Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.
Und unsichtbare Helme trägt man dort.
Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.
Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!

Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will
- und es ist sein Beruf etwas zu wollen -
steht der Verstand erst stramm und zweitens still.
Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!

Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezognem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.

Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.
Es könnte glücklich sein und glücklich machen?
Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein
und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.

Selbst Geist und Güte gibt's dort dann und wann!
Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.
Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.
Das will mit Bleisoldaten spielen.

Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut - es werden stets Kasernen.
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!

Ich bin der Dichter, der euch anfleht und beschwört.
Ihr seid das Volk, das nie auf seine Dichter hört.

Kästners literarisches Engagement richtet sich nach dem Krieg auf ihm schon zumeist vertraute Bereiche: neben seiner Tätigkeit für den PEN-Club vor allem Kabarett, Journalismus, Jugenderziehung und -literatur, Drehbuch, Herausgebertätigkeit. In fast jedem Text zeigt sich die Kontinuität seines schriftstellerischen Selbstverständnisses, er bleibt Satiriker, Moralist, Aufklärer, Pädagoge. 
Die von ihm so verachtete "Dummheit" nimmt er aufs Korn und vertritt die Idee des jede Gesellschaft allererst humanitär und harmonisch organisierenden Vernunftprinzips. "Der Krieg ist aus. Die Übermenschen sind gegangen. Und die Dichter dürfen wieder ihr altes Amt übernehmen, uns daran zu erinnern, dass wir, wenn schon nicht gut, so doch besser werden sollten. Und wenn nicht aus Liebe und Güte, so um Himmels willen endlich aus Gründen der Vernunft! Ehe der Globus mit einem lauten Knall zerplatzt!"

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 Anhören: Die Entwicklung der Menschheit - Musik Holger Münzer

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspülung.

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehn die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
und bleiben zwei Wochen oben.

Was ihre Verdauung übrigläßt,
das verarbeiten sie zu Watte.
Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
dass Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.
 Link ➨        Kästner im Netz     
Allerdings verstärkt sich die immer schon vorhandene Resignation in bezug auf die Erziehbarkeit seiner Zeitgenossen; die Skepsis gegenüber dem "Dichteramt" als pädagogische Aufgabe wird deutlicher: "Ich bin der Dichter, der euch anfleht und beschwört. Ihr seid das Volk, das nie auf seine Dichter hört". Wie für viele andere Autoren bedeutete auch für Kästner diese Bücherverbrennung einen wesentlichen Einschnitt in Leben und Werk. Er lernt auch aus dieser Erfahrung, setzt sich im weiteren Verlauf seines Lebens vehement gegen jegliche Zensur ein und erinnert immer wieder an die Bücherverbrennung.
: Link ➨       Anhören: Zeitgenossen haufenweise - Musik Holger Münzer
Erich Kästner.  Geboren am 23. 2. 1899 in Dresden, besuchte von 1906-1913 die Volksschule und bis 1917 das Freiherrlich von Fletscher'sche Lehrerseminar in Dresden; 1917/18 Militärdienst, anschließend Abschlusskurs am Lehrerseminar, 1919 Abitur am Dresdner König Georg-Gymnasium, darauf Studienbeginn in Leipzig (Germanistik, Geschichte, Philosophie, Theatergeschichte); ab 1920 erste Zeitungsveröffentlichungen, 1922 Anstellung am Zeitungswissenschaftlichen Institut in Leipzig und Mitarbeit an der "Neuen Leipziger Zeitung"; 1925 Promotion, Fortsetzung der Redakteurstätigkeit, ab 1927 in Berlin als Theaterkritiker und freier Mitarbeiter u. a. bei "Weltbühne", "Montag Morgen", "Vossische Zeitung"; 1931 Wahl in den PEN-Club; 1933 Verbrennung seiner Bücher durch die Nationalsozialisten, 1934 erstmals und 1937 erneut von der Gestapo verhaftet; 1937 Reise nach Reichenhall bzw. Salzburg; Januar 1943 endgültiges Schreibverbot; März 1945 Filmexpedition nach Mayrhofen/Tirol, im Herbst Gründung des Kabaretts "Die Schaubude" in München, wo Kästner sich als Feuilletonchef der "Neuen Zeitung" niederließ; 1951 Präsident des westdeutschen PEN-Zentrums, Gründung des Münchner Kabaretts "Die kleine Freiheit" im selben Jahr; 1962/63 Sanatoriumsaufenthalt in Agra/Tessin; 1963 Ehrenpräsident des PEN, Januar bis August 1964 wieder in Agra; im Herbst Ausstellung des Goethe-Instituts in München; nach zahlreichen Lesungen auch im europäischen Ausland zieht sich Kästner um 1966 fast vollständig aus dem Literaturbetrieb zurück; er stirbt am 29.7.1974 in München.
 Link ➨         Erich-Kästner-Museum
Preise:

* Bundesfilmpreis für "Das doppelte Lottchen" ( 1950)
* Literaturpreis der Stadt München (1956)
* Georg-Büchner-Preis (1957)
* Hans Christian-Andersen-Medaille des Internationalen Kuratoriums für das    Jugendbuch (1960)
* Erster Preis ("Goldener Igel") im internationalen Humoristenwettbewerb
   der bulgarischen Jugendzeitung "Narodna Mladesch", Sofia (1966)
* Literaturpreis der Deutschen Freimaurer, Überreichung
   des Lessing-Rings (1968)
* Kultureller Ehrenpreis der Landeshauptstadt München (1970)
* Goldene Ehrenmünze der Landeshauptstadt München (1974).
 Link ➨         Erich Kästner Kommentierte Linksammlung, UB der FU Berlin

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